Die Moral im Schweinestall

Was soll ein Bauer tun, wenn die Leute mehr Tierwohl fordern – aber niemand dafür bezahlen will? Besuch auf einem Hightech-Masthof.

Dirk und Anne Sandering haben einen mittleren einstelligen Millionenbetrag in den Umbau ihrer Ställe investiert. © Jakob Schnetz für DIE ZEIT

Ein grauer Tag im Nordwesten Niedersachsens, eine Stunde nördlich von Osnabrück. Die Wolken spiegeln sich in den Wasserpfützen auf den Feldern. Vor dem Hof von Dirk und Anne Sandering steht eine historische Windmühle ohne Flügel, dahinter dreht sich ein modernes Windrad. Es ist still, nur im Schweinestall ist was los: Drei junge Männer versuchen, die größeren Tiere von der Gruppe zu trennen und in einen Gang zu treiben. Einige kreischen und quieken. „Die werden schon mal für den Transport heute Nacht fertig gemacht“, sagt Dirk Sandering. „Das machen wir tagsüber, damit nachts dann Ruhe im Stall ist.“

Nächtliche Stallruhe hilft den Tieren. Auch sonst trägt Sandering Sorge dafür, dass es ihnen in den 100 Tagen, die sie in seinem Stall verbringen, möglichst gut geht. „Gut gehen“: Was das heißen soll, dafür hat zunächst die privatwirtschaftliche Initiative Tierwohl Kriterien entwickelt. Seit vergangenem Jahr gilt für Schweine zudem das staatliche Haltungskennzeichen mit fünf Stufen. Der größte Sprung findet von Stufe zwei auf drei statt.

 

Um die Stufe drei zu erreichen, hat der Schweinemäster Dirk Sandering einen Hightech-Stall gebaut. An der Decke bewegen sich Roboter auf Schienen, sie lassen täglich Stroh herabrieseln. Wühlen die Schweine darin, sind sie beschäftigt. Sie knabbern sich dann nicht gegenseitig die Schwänze ab. Eine Stallseite ist ab Brusthöhe komplett offen, Tageslicht und Frischluft dringen herein – Außenklimareize heißt das im Kriterienkatalog. Auch das ist ein Muss für Stufe drei. Jedes Schwein muss mindestens 1,05 Quadratmeter Platz haben, bei Sandering bekommt es sogar 1,3 Quadratmeter, fast doppelt so viel, wie es der gesetzliche Mindeststandard von 0,7 Quadratmetern erfordert.

Dirk Sandering, 32 alt und Vater von zwei Kindern, hat einen mittleren einstelligen Millionenbetrag in den Umbau seiner Ställe investiert. Staatliche Förderung gab es nicht. Er ist ein gewaltiges unternehmerisches Risiko eingegangen – ohne zu wissen, ob es sich je lohnen wird. Ebenso wenig lässt sich sagen, wie viele Landwirte sich auf den gleichen Weg gemacht haben wie er. Viele Schweine, die Auslauf haben oder nach biologischen Richtlinien gehalten werden, stammen von kleineren Höfen in Bayern. Hightech-Tierwohlställe kommen eher für große Betriebe infrage, wie sie in Niedersachsen zu finden sind. Es dürfte erst eine Handvoll geben.

Denn viele Nutztierhalter stehen wie Sandering vor einem Dilemma: Moral ist leichter gefordert als bezahlt. Zwar sind neun von zehn Konsumenten für bessere Standards in der Tierhaltung, wie eine Umfrage des europäischen Verbraucherschutzverbandes BEUC ergeben hat. Und sieben von zehn geben an, dafür höhere Preise zahlen zu wollen. Doch in der Realität kaufen die allermeisten Menschen das Billigste. Schweinefleisch ab Haltungsstufe drei kam 2022 nur auf einen Marktanteil von acht Prozent. Wie soll sich ein Schweinemäster da verhalten?

Wer Dirk und Anne Sandering in ihrem Wohnhaus besucht, betritt einen Empfangsraum mit einem langen Holztisch. Die Sprüche an den Wänden könnten auch in einem Start-up-Büro in Berlin-Mitte hängen. „Erfolg hat 3 Buchstaben: TUN“ steht auf einem Poster. Auf einem anderen sind die Wörter „Hätte, sollte, könnte, müsste“ durchgestrichen, darunter, ohne Strich: „Machen“. An den Bauernprotesten im Januar hat Sandering sich nur einen Tag lang vor Ort beteiligt, jetzt, sagt er, sei es auch mal gut. „Ich kann viel labern. Aber wenn ich nichts mache, kommt auch nix.“

Gemacht hat die Familie Sandering schon lange viel. Im Jahr 1952 bestand der Hof von Dirk Sanderings Großeltern aus 40 Hektar Land, zehn Kühen und zehn Zuchtsauen. Anfang der Siebziger wurde er immer größer, jetzt wurden dort auch Bullen gemästet, Mitte der Neunziger stieg der Vater in die Windkraft ein und 2008 in die Fotovoltaik. Heute baut der Enkel auf etwa 800 Hektar Kartoffeln und Getreide an und hält 4.500 Schweine. Die im August 2023 fertiggestellten nachhaltigen Stallungen nennt Dirk Sandering das größte Bauprojekt des Hofs. „Bei all dem, was wir in den letzten fünf Jahren gemacht haben, sprechen wir von einem Gesamtkonzept.“

Im Stall lassen Roboter das Stroh niederrieseln, und Filter saugen die Gerüche ab. © Jakob Schnetz für DIE ZEIT

Im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen kleiner bäuerlicher Idyllen gehört dazu für ihn Größe. Wenn er schon einen zusätzlichen Stall baue, dann nicht einen, wie man ihn kenne, erzählt Sandering. Sondern zukunftsorientiert. Haltungsstufe drei. Für Stufe vier bräuchten die Schweine Freigang, aber das gehe nicht, sagt er – zu nah liege sein Betrieb an der Siedlung. Das Emissionsrecht verbietet hier Schweine, die draußen rumlaufen, Tierwohl hin oder her.

In den Hightech-Tierwohlställen hält Sandering 4.500 Schweine. © Jakob Schnetz für DIE ZEIT

Erste Gespräche führt Sandering 2019, kurz danach wird die Schweinewirtschaft von ihrer bisher schwersten Krise heimgesucht. Erst werden die Schlachthöfe während der Covid-Pandemie von hohen Infektionszahlen geplagt. Als die dadurch vorübergehend schließen müssen, werden die Mäster ihre Schweine nicht mehr los. Dann folgt im Jahr 2020 der Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest in Ostdeutschland. China, für hiesige Betriebe ein wichtiger Exportmarkt, verbietet die Einfuhr von Fleisch aus Deutschland. Der Preis für das Kilo Schlachtschwein sinkt auf 1,20 Euro. Für Sandering stellte sich als Erstes die Frage: „Wie werde ich das, was ich produziere, los, und wie finde ich Ferkel?“

 

Zum Glück findet er einen regionalen Partner, der ihm die erhoffte Planungssicherheit bietet: Die Goldschmaus-Gruppe, hierzulande Nummer sechs unter den Schlachtern, hat sich auf eine komplett regionale Wertschöpfungskette spezialisiert und das Qualitätsfleischprogramm „Die Marke der Bauern“ gegründet. Sie bietet Sandering einen Fünfjahresvertrag für Schweine aus der Stufe drei, zu Konditionen, die er „akzeptabel und wirtschaftlich“ nennt. Für das Kilo Schlachtschwein erhält er mindestens zwei Euro plus einen festen Aufschlag. Für die Ferkel, die er einkauft, zahlt er wiederum auch einen Mindestbetrag plus Tierwohl-Aufpreis. „Das war für mich der Startschuss zu sagen: Okay, die Absicherung hast du, jetzt ist die Frage, wie baust und gestaltest du das.“

 

Als er in Schleswig-Holstein eine Pilotanlage mit einem roboterbetriebenen Strohstall sieht, ist er sofort begeistert. Das Problem mit dem Stroh ist, dass es viel mehr Arbeit macht als die Spaltenböden, auf denen der Großteil der Schweine sich die Hufe wund steht. „Personal fällt auch hier nicht vom Himmel“, sagt Sandering. Gerade mal zehn Leute arbeiten in Vollzeit auf dem Hof. Während eines gesamten Mastzyklus von drei Monaten macht diese Zusatzarbeit eben der Einstreuroboter. „Das Stroh bleibt so lange drin wie die Schweine. Die Matte wächst mit, es wird immer wieder nachgestreut“, erklärt Sandering. Ist eine Ladung Schweine raus aus ihrer Bucht, wird der Mist rausgefahren, zunächst auf dem Misthaufen gelagert und dann in einer Biogasanlage vergoren.

Die Fotovoltaikanlage deckt 60 bis 65 Prozent des jährlichen Energiebedarfs von 850.000 Kilowattstunden ab. © Jakob Schnetz für DIE ZEIT

Energie ist ein wichtiger Teil des Gesamtkonzepts. Wenn die Schweine unten mehr Platz haben, entstehen oben auf dem Stalldach größere Dachflächen für Solarmodule. Sandering entscheidet sich für voll nach Süden ausgerichtete Pultdächer, dazu kauft er eine Speicherbatterie, so groß wie ein Container. Über Fotovoltaik deckt er jetzt 60 bis 65 Prozent seines jährlichen Energiebedarfs von 850.000 Kilowattstunden. Allein für die Kartoffeln, die da in einer Halle lagern, braucht es Strom: Weil sie im Haufen zu schwitzen beginnen, müssen sie permanent von großen Ventilatoren im Boden belüftet werden.

Bevor er den neuen Schweinestall baut, sucht Sandering früh das Gespräch mit Nachbarn und Tierschutzverbänden. „Alle sagten, was der Sandering da macht, da wird es Einwendungen und Proteste hageln.“ Aber nichts davon passiert. „Da waren auch die Behörden platt.“ Heute besuchen ihn viele Schulklassen und Forschungseinrichtungen, beobachten die Schweine durch die Glasscheibe im Besucherraum und lesen auf den Infotafeln, wie die Kreislaufwirtschaft auf dem Hof funktioniert. „Es war alles nicht einfach, und wir haben auch viel Zeit und graue Haare investiert. Aber am Ende des Tages sind wir an ein Ziel gekommen“, sagt Sandering zufrieden.

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, aber ganz so leicht ist es nicht. Denn nur etwas mehr als die Hälfte seiner 4.500 Schweine steht in dem neuen Stall, dem der Stufe drei. Den alten Stall gibt es auch noch, nahe am Windrad. Auf Nachfrage fährt Sandering mit dem Auto hin.

Der alte Stall hat keinen Besucherraum. Während es rund um den Tierwohlstall kaum roch (die Gerüche werden durch eine Filteranlage abgesaugt), trifft einen hier eine Ammoniakwolke wie eine Keule. „Das ist jetzt natürlich das krasse Gegenteil“, sagt Sandering. Durch geschlossene kleine Fenster mit Milchglasscheiben dringt nur fahles Licht. Die Schweine stehen auf verschmierten Spaltenböden, ihre Schwänze sind kupierte Stummel. Haltungsstufe zwei.

 

Natürlich fühle er sich besser mit den anderen Schweinen, sagt Sandering. Er würde auch sofort den alten Stall hochrüsten auf Stufe drei, „wenn ich die Planungssicherheit von der Politik hätte“. Im Moment verdiene er zwar gut mit den Strohschweinen, sogar etwas besser als mit den konventionell gehaltenen Tieren – auch der Schweinepreis am freien Markt ist mit 2,15 Euro je Kilo wieder auf einem hohen Niveau. Aber wie es nach den vertraglich gesicherten fünf Jahren weitergeht, das wisse er nicht.

Der Kontrollraum für Ställe © Jakob Schnetz für DIE ZEIT

Zwar ist am 1. März ein neues staatliches Hilfsprogramm gestartet. Eine Milliarde Euro steht nun über mehrere Jahre verteilt zur Verfügung, um Schweinestallumbauten und die dadurch entstehenden Kosten im Betrieb zu fördern. Doch die Borchert-Kommission, die noch während der großen Koalition Konzepte für einen Umbau der Tierhaltung erarbeitet hatte, ging davon aus, dass ab 2040 jährlich 3,6 Milliarden benötigt würden – für alle Nutztierarten.

 

Und die Borchert-Empfehlungen stammen von 2020, also aus einer Zeit mit niedrigeren Zinsen. Auch Dirk Sandering musste nur zwischen ein und zwei Prozent Zinsen auf seine Kredite zahlen, heute würden eher drei bis vier Prozent fällig. „Den Stall nur für sich allein, den hätte ich nach jetziger Marktlage nicht gebaut“, sagt er. Förderungen hält er angesichts der hohen Investitionen für mindestens zehn Jahre für vonnöten. Vorgesehen sind nach dem neuen Programm zunächst maximal sieben.

 

Neben der Politik entscheidet sich für Sandering letztlich auch bei den Verbrauchern und im Handel, ob Landwirte mit anspruchsvollen Haltungsbedingungen eine Perspektive in Deutschland haben.

Die Vegetarierinnen und Veganer sind für ihn da gar nicht das größte Problem, auch wenn er sich darüber aufregt, wenn Kitas fleischfreie Tage einrichten und Erzieherinnen den Kindern einreden, die Tierehätten es schlecht. „In einer Gesellschaft wird es immer alles Mögliche geben, Veganer, Alkoholiker, Raucher, Drogenabhängige, Arme, Reiche, Leute, die viel Fleisch essen, und solche, die es nur einmal die Woche tun“, sagt er.

Nein, das größere Problem sei die Wohlstandsgesellschaft. Das Angebot im Supermarkt hält Sandering für zu groß und zu klein zugleich. Da sind zum einen lange Fleischtheken mit Dutzenden Sorten Salami. Zugleich würden von einem 90-Kilo-Schlachtschwein etwa 60 Kilogramm ins Ausland verramscht, weil hier Näschen oder Ohren unverkäuflich sind. Vom Schwein wollten hierzulande alle nur Filet und Schnitzel – und das billig. „Fleisch ist doch den Deutschen nichts mehr wert!“, sagt er.

 

Auf die Tierwohlinitiativen des Einzelhandels blickt Sandering mit gemischten Gefühlen. Angefangen mit Aldi Süd, haben die meisten großen Supermarktketten angekündigt, bis 2030 nur noch Fleisch ab Haltungsstufe drei anzubieten. Aldi Süd gibt an, bei Frischfleisch schon jetzt bei 50 Prozent zu liegen, bei gekühlten Fleisch- und Wurstwaren immerhin bei 20 Prozent. Pures Marketing sei das, sagt Sandering. Er verweist auf die große Spanne zwischen den Preisen, die er als Erzeuger für ein Kilo Tierwohlfleisch bekommt und dem, was es an der Ladentheke kostet. Der Lebensmitteleinzelhandel mache sich die Taschen voll, „das sind die größten Räuber im System“.

Wenn aber weder die Politik noch der Markt ihm verlässliche Perspektiven bieten – warum hat er sich dann überhaupt auf die Reise Richtung Tierwohl eingelassen? Warum hat er all das Geld und all die Mühen investiert? Das ist wohl auch eine Frage der Einstellung. „Wenn ich nur jaulen und negativ denken würde, dann kann ich den Laden hier schließen und mir im Ausland ein schönes Leben machen“, sagt Sandering: „Will ich aber nicht.“

Transparenzhinweis: Nach Erstveröffentlichung des Textes haben wir ergänzt, dass der gesetzliche Mindeststandard 0,7 Quadratmeter pro Schwein beträgt. Die Sanderings haben außerdem zwei Kinder, nicht eines.